12. August 2021
Wie Künstliche Intelligenz bei Saarstahl die Prozesse beschleunigt
Seit April 2019 sagt im Saarstahl-Stahlwerk ein Machine Learning-Algorithmus den Sauerstoffgehalt des erkalteten Stahls voraus und liefert dabei äußerst genaue Ergebnisse. Bisher musste die Konzentration von Sauerstoff anhand physikalischer Proben bestimmt werden, wodurch die Abwicklung der Aufträge verteuert und die Auslieferung der Walzprodukte verzögert wurde.
Pro Monat werden im Stahlwerk von Saarstahl über 200.000 Tonnen Stahl erzeugt. Die Sorten reichen von Grundgüten, weichen Ziehgüten, Schweißdraht über Spannstähle, Gewebedraht und Automatenstahl bis hin zu SKD, legierten und unlegierten Qualitäts- und Edelstählen, Kaltstauchgüten, Wälzlager- und Federstählen.
Bei jeder Lieferung erhält der Kunde ein Attest, dass der Gehalt an Legierungsstoffen und Begleitelementen in der von ihm bestellten Stahlsorte exakt seinen Anforderungen entspricht. Dabei erfolgt die analytische Bestimmung fast aller im Stahl enthaltenen Elemente anhand der Probe, die während des Vergießens an der Stranggießanlage aus dem Verteiler zwischen Pfanne und Kokillen genommen wird. Diese wird im Stahlwerkslabor analysiert und von der Qualitätsstelle bewertet. Entspricht die Bewertung den Vorgaben, kann das Material nach dem Walzen unverzüglich zum Kunden versendet werden.
„Im Unterschied dazu lässt sich der Sauerstoffgehalt nicht genau genug an der Gießprobe bestimmen“, erklärt Dr. Elizabeta Korte, die Leiterin der Abteilung Qualitätswesen Stahlwerk. „Er kann nur am verformten Material an einer eigens hergestellten Probe exakt bestimmt werden. Diese kann aus einer Schmiedeprobe oder aus einem gewalzten Stab- oder Walzdrahtabschnitt gefertigt werden.“ Dies hat einen zeitlichen Verzug bei der Abwicklung der Aufträge zur Folge, da mit dem Versenden des fertig gewalzten Materials gewartet werden muss, bis das Ergebnis der physikalischen Erprobung vorliegt und die Freigabe durch die Qualitätsstellen erfolgt.
Sauerstoffbestimmung in Echtzeit
Wie kann man den Sauerstoffgehalt anders als durch physikalische Erprobung bestimmen und dadurch die Prozesse beschleunigen? Das war die Aufgabenstellung des Ende 2018 gestarteten KI-Projekts zur Sauerstoffvorhersage. An dessen Anfang stand – wie bei fast allen KI-Projekten – ein fachbereichsübergreifendes Brainstorming. „Wir mussten zunächst herausarbeiten, welche Faktoren beim Schmelzen Einfluss auf den Sauerstoffgehalt einer Charge haben können“, erläutert Michael Schäfer, Leiter Data Science innerhalb des Bereichs Informations- und Kommunikationssysteme. Fachbereichsübergreifend deswegen, weil aus der Vielzahl der Faktoren bewertet werden musste, welche relevant sind, welche weniger wichtig und welche komplett vernachlässigt werden können. „Hierfür braucht man eben die praktische Erfahrung und das tiefe Prozesswissen der Kolleginnen und Kollegen vor Ort aus der Qualitätsstelle Stahlwerk und dem Schmelzbetrieb“, so Schäfer.
Für die Entwicklung des KI-Modells wurden die entsprechenden Daten ab dem Jahr 2016 offline in eine Datenbasis zusammengeführt, plausibilisiert und teils aus den Prozessdaten neue Einflussgrößen generiert. Mit diesen wurden, in regelmäßiger Abstimmung mit den Fachbereichen, verschiedene Vorhersagealgorithmen trainiert und schließlich die beste Modellarchitektur ausgewählt. Schließlich wurde das komplette Sauerstoffprognose-Modell ausgerollt, so dass der Vorhersagealgorithmus in die existierenden Systeme eingebettet und Schnittstellen bereitgestellt wurden. Diese Einbettung ermöglicht es, dass der vorhergesagte Sauerstoffwert direkt nach Erzeugung der Charge online in dem SAP-Chargenfreigabesystem zur Verfügung steht.
Sehr hohe Treffsicherheit
„Für die ersten Werkstoffe, z.B. Federstahl, liegen jetzt seit mehr als einem Jahr Ergebnisse vor und wir können sagen, dass unsere Vorhersagen bereits sehr gut sind: Wir kommen an die physikalische Messgenauigkeit heran“, berichtet Schäfer. Auch wenn die Vorhersage mittels KI eine Erfolgsgeschichte ist – ganz überflüssig werden die Proben dadurch nicht: „Da das Schmelzen ein lebendiger Prozess ist, der z.B. durch geänderte Produktionsvorschriften oder neue Rohstofflieferanten beeinflusst werden kann, werden wir auch in Zukunft von Zeit zu Zeit einen stichprobenhaften Abgleich unserer Vorhersage mit einer physikalischen Erprobung vornehmen, um solche Prozessveränderungen unmittelbar zu bemerken, reagieren zu können und bei Bedarf das Modell nachzutrainieren.“
Zur Überwachung und Bewertung der Vorhersagequalität werden die gemessenen und vorhergesagten Werte in einem Grafana-Modell dargestellt. Dadurch kann jederzeit die Treffsicherheit des Modells z.B. für Audits verifiziert werden. Die aus der Vorhersage ermittelten Werte werden zur Attestierung der Einhaltung der Kundenvorgaben genutzt.
Im Einvernehmen mit dem Kunden
Gestartet wurde das Projekt mit Federstählen, für die bereits bei vielen Chargen Mess- und Prozessdaten vorlagen. Aufgrund der guten Ergebnisse wurde die Sauerstoffvorhersage inzwischen bereits auf weitere Güten ausgedehnt. „Selbstverständlich stimmen die Qualitätsstellen unserer Werke mit ihren Kunden im Vorfeld ab, ob diese mit der Attestierung auf Basis der Vorhersage einverstanden sind oder ob sie eine Ist-Werterprobung wünschen“, stellt Dr. Korte klar.
Diese Vorgehensweise bietet beiden Seite klare Vorteile: Durch den Entfall der physikalischen Erprobung erhalten die Kunden ihr Material schneller und Saarstahl hat bereits Erprobungskosten in sechsstelliger Höhe eingespart.
KI-Projekt Virtuelle Sauerstofferprobung
Projektstart: Ende 2018
Produktiv seit: April 2019
Beteiligte Bereiche: Data Science Abteilung IKS, Qualitätwesen Stahlwerk, Schmelzbetrieb, Planungsabteilung IKS, Qualitätswesen der Standorte